MOSKAU, 20. Dezember (RIA Novosti). Der frühere UdSSR-Außenminister
Eduard Schewardnadse hat RIA Nowosti ein Interview gewährt.
Das Gespräch zwischen Schewardnadse und dem Redaktionsleiter des
RIA-Novosti-Büros in Georgien, Bessik Pipija, fand am Vorabend des
Jahrestags der Unterzeichnung der Erklärung über das Ende der UdSSR und
der Gründung der GUS in dessen Residenz Krzanissi statt.
RIA Novosti: Eduard Amwrossijewitsch, am 21. Dezember 1991 unterzeichneten
die Leiter von elf Sowjetrepubliken die Erklärung über das Ende der UdSSR
und die Bildung der GUS. Was ging diesem Ereignis voraus? Finden Sie, dass
die Umwandlung der Sowjetunion in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten
unvermeidlich war - wenn ja, warum?
Schewardnadse: Ende der 80er Jahre lief die ganze Entwicklung auf den
Zerfall der Sowjetunion hin. Beschleunigt wurde er auch noch durch die
Konfrontation zwischen Gorbatschow und Jelzin. Gorbatschow war natürlich für
eine einheitliche Sowjetunion, Jelzin war bereits Präsident von Russland. Möglicherweise
war auch er für die Erhaltung der Sowjetunion, aber er und Gorbatschow
hassten sich unverhohlen. Wir, die in ihrer Nähe waren, versuchten sie auf
irgendeine Weise miteinander auszusöhnen und dem unangenehmen Gerede ein
Ende zu setzen. Daraus wurde nichts.
Dann wurde die Entwicklung durch die Verschwörung gegen Gorbatschow,
genauer, gegen den Präsidenten der UdSSR, beschleunigt. Zuvor war ich zurückgetreten.
Das Außenministerium, dem ich vorstand, setzte sich zu ungefähr 30 Prozent
aus Mitarbeitern des KGB zusammen. Von ihnen bekam ich die Information, dass
eine Konterrevolution in Vorbereitung sei. Ich sprach mit einigen Leuten darüber,
konnte jedoch keinen überzeugen. So reichte ich aus Protest gegen diese
Konterrevolution meinen Rücktritt ein.
Ich ergriff das Wort und sagte, das werde die kürzeste Ansprache meines
Lebens sein. Eine Diktatur sei im Anzug, und niemand wisse, was das für ein
Diktator sei, wer komme, was mit der Perestroika, der Demokratie usw. sein
werde. Man bat mich doch zu bleiben, aber ich verließ den Sitzungssaal,
stieg in meinen Wagen ein und fuhr nach Hause.
Etwa anderthalb Monate später reiste Gorbatschow nach Foros auf der Krim
zur Erholung. Aber unterwegs machte er, wie ich annehme, einen Abstecher
nach Minsk. Dort traf er sich mit den Funktionären, sagte, dass die Gefahr
einer Diktatur real sei, und bat die Perestroika-Anhänger, wachsamer zu
sein und der Diktatur den Weg zu versperren.
Dann kam das GKTschP (Staatliches Komitee für den Ausnahmezustand - d.
Red.), die Beziehungen zwischen dem Präsidenten Russlands und dem der UdSSR
spitzten sich noch mehr zu. Der Zerfall des Staates war nicht mehr
aufzuhalten.
RIA Novosti: Eduard Amwrossijewitsch, Georgien trat der Gemeinschaft Unabhängiger
Staaten zwei Jahre nach ihrer Gründung bei. War das ein gezwungener Schritt
oder eine freiwillige Entscheidung?
Schewardnadse: Ich strebte nicht nach der Mitgliedschaft in der GUS,
eigentlich hatte ich keinen besonderen Wunsch, ihr beizutreten. Denn als ich
ihre Satzung gelesen hatte, sah ich: Eine solche Organisation konnte die
UdSSR nicht ersetzen. Aber Jelzin bestand sehr darauf, rief mich mehrmals an
und sagte: Ich rate Ihnen zum Beitritt zur GUS. Ich war nicht dagegen, aber
in Georgien gab es zu der Zeit bereits ein Parlament, dessen Abgeordnete zu
30 bis 40 Prozent gegen den Beitritt zur GUS waren, da sie diese mit der
UdSSR assoziierten.
Etwa zwei Jahre später war ich in Moskau, besuchte Jelzin und sagte, ich
bin trotz der Widersprüche im Parlament bereit, der GUS beizutreten. In
Abchasien und Südossetien war die Entwicklung tragisch, und ich glaubte,
dass die Lösung des Problems von Russland abhängen werde.
RIA Novosti: Diese Probleme wurden, wie sich später erweisen sollte, für
viele Jahre auf Eis gelegt, aber vor kurzem sagte der dritte georgische Präsident
Michail Saakaschwili, er könne binnen dreier Monate Südossetien unter
Georgiens Jurisdiktion stellen.
Schewardnadse: Weiß ich nicht. Dasselbe sagte übrigens auch sein Freund,
der Ex-Verteidigungsminister. Daraus wurde nichts. Zur Zeit läuft der
Wahlkampf, die Präsidentschaftskandidaten geizen nicht mit Versprechungen
jeder Art. Er sagte, dass er auch Suchumi (Hauptstadt Abchasiens - Anm. der
Redaktion) zurückholen werde. Aber so einfach wird das nicht sein - nur
durch Russland. Wenn eine Einigung mit Russland erzielt wird, wenn es
gelingt, für Georgien, Abchasien und Russland gleichermaßen annehmbare
Varianten auszuarbeiten, könnte auch eine Lösung gefunden werden.
Ich sprach mehrmals mit Putin. Ich bin überzeugt, dass man sich mit Putin
einigen kann, obwohl gegenwärtig die Beziehungen zwischen Russland und
Georgien höchst kompliziert sind. Putin hält sein Wort.
Einmal, als sich Putin zur Erholung in Sotschi befand, rief er mich an und
lud mich ebenfalls in den Urlaub ein, schlug auch vor, wichtige
Angelegenheiten zu besprechen. Ich reiste hin, wir trafen uns. Putin schlug
mir vor, die Bahnstrecke durch Abchasien wieder aufzubauen, damit die Züge
bis nach Baku, Jerewan und sogar in die Türkei durchfahren könnten. Ich
hatte keine Einwände und bat ihn meinerseits, zur Rückkehr der Flüchtlinge
in den Kreis Gali beizutragen. In diesem Kreis lebten zur Sowjetzeit 80 000
Menschen, hauptsächlich Georgier. Der reiche Kreis ernährte dank dem Anbau
von Tee, Zitrusfrüchten und seinen Nüssen beinahe halb Abchasien. Putin
nahm den Hörer und rief den Befehlshaber der Friedenskräfte, einen
russischen General, an. Diesem sagte er: Ich habe erfahren, dass dort in den
mingrelischen Gebieten die Einwohner des Kreises Gali leben. Ich gebe dir
den Auftrag, diese Menschen zusammenzuziehen und in den Kreis Gali zurück
zu befördern, denn ich habe dem georgischen Präsidenten das Wort gegeben
und will nach ein paar Tagen kontrollieren, wie du diesen Auftrag erfüllst.
Und wirklich: 50 000 oder 60 000 Flüchtlinge kehrten in den Kreis Gali zurück,
wenn auch nicht alle zusammengebracht werden konnten.
RIA Novosti: Kehren wir zur Sowjetunion zurück. Wie denken Sie, ist es möglich,
eine solche Struktur wiederzubeleben?
Schewardnadse: Ein kategorisches Nein. Nicht Georgien allein ist unabhängig,
alle Staaten sind es geworden. Kasachstan zum Beispiel, ein überaus reiches
Land, dessen Bodenschätze das ganze Mendelejew-System bergen, wird wohl
kaum auf seine Unabhängigkeit verzichten. Zudem ist es ein Land, in dem
sich Nasarbajew zum ewigen Präsidenten auf Lebenszeit ausgerufen hat.
RIA Novosti: Hat die GUS eine Zukunft?
Schewardnadse: Doch, wenn diese Organisation wirklich handlungsfähig sein
und die Situation im GUS-Raum real beeinflussen wird. Das ist möglich.
RIA Novosti: Eduard Amwrossijewitsch, lassen Sie uns von UdSSR und der GUS
zum unabhängigen Georgien wechseln. Über Ihren Rücktritt als georgischer
Präsident kursieren viele Gerüchte. Die einen sagen, Saakaschwili sei Ihr
Zögling, Sie hätten ihm auf diese Weise, mittels der
"Rosenrevolution", absichtlich die Macht übergeben. Andere sagen,
Sie hätten weder Kräfte noch Mittel gehabt, um die Kundgebungen zu unterdrücken.
Wieder andere schließlich behaupten, Moskau habe Sie dazu gezwungen. Wie
sah es in Wirklichkeit aus?
Schewardnadse: Moskau hat damit nichts zu tun.
RIA Novosti: Warum kam zu jener Zeit der damalige russische Außenminister
Igor Iwanow nach Georgien?
Schewardnadse: Igor Iwanow kam als mein Freund. Er traf sich zuerst mit der
Opposition, dann trafen wir beide uns. Aber er konnte nichts zu meinen
Gunsten unternehmen. Darauf bat er mich, ihm ein Flugzeug zu überlassen,
flog nach Batumi und von Batumi nach Moskau zurück. Damit war seine ganze
Mission beendet.
Ich stand auf der Tribüne im Parlament und hielt eine Rede, als die Verschwörer
Saakaschwili, Schwanija und andere gewaltsam in den Saal eindrangen. Ich sah
Menschen, die mit Maschinenpistolen, Pistolen, Messern und Knüppeln
bewaffnet waren...
RIA Novosti: Und wo waren die Rosen?
Schewardnadse: Überhaupt nicht da. Ich weiß nicht, wieso das als
Rosenrevolution bezeichnet wurde. Ich habe keine einzige Rose gesehen.
Als die Lage gefährlich wurde, führte mich die Wache natürlich in den Hof
hinaus. Dort sah ich einerseits die Anhänger der Opposition und
andererseits meine Anhänger, etwa 2500 Menschen. Man sagte mir, dass ich
durchhalten müsse und nicht weichen dürfe und dass sie am nächsten Tag
100 000 Menschen zu meiner Unterstützung zusammenziehen würden.
Ich bewertete die Ereignisse als einen versuchten Staatsumsturz und verkündete
den Ausnahmezustand. Darauf stieg ich in den Wagen und fuhr nach Hause. Im
Wagen aber kamen mir die Gedanken: Ja, ich kann das tun, weil ich Präsident
und Oberbefehlshaber bleibe, und die Armee muss den Befehl des
Oberbefehlshabers ausführen. Die Armee hat Kanonen, Panzer, es ist keine
sehr große Armee, aber ausreichend bewaffnet. Natürlich wird die Armee
siegen. Doch wird es auf dieser und auf jener Seite Tote geben. Ich sage
mir: Was ist der Unterschied für dich als Georgiens Präsident, ob die
Menschen auf jener Seite oder auf dieser Seite sterben?"
Aus dem Wagen rief ich die Kanzlei an und verlangte, den Erlass über den
Ausnahmezustand aufzuheben. Ich komme nach Hause, und da sagt mir meine Frau
gleich bei meiner Ankunft: "Was willst du anrichten? Ich weiß sehr
gut, was der Ausnahmezustand bedeutet. Willst du etwa ein Blutvergießen?"
Ich sage ihr: „Es wird kein Blutvergießen geben, aber du musst wissen,
dass ich ab morgen nicht mehr Präsident bin, ich trete zurück.“ Mein
Sohn rief aus Paris an, er ist in der UNESCO tätig. Er fragte: „Vater,
wird Blut vergossen werden?“ Ich sagte, dass es zu keinem Blutvergießen
kommen werde. Darauf lud ich die Verschwörer - Schwanija und Saakaschwili -
zu mir ein. Zu ihnen sagte ich: Kinder, was gestern vorgekommen ist, wissen
sie. Was werden wir aber weiter tun, wie werden wir damit leben?
Schwanija sagte: „Der am wenigsten schmerzlose Ausweg wäre der Rücktritt
des Präsidenten. Aber wir sind Ihre Zöglinge und dürfen Ihnen das nicht
zumuten. Ich sage: „Dann verlieren wir unnütz die Zeit. Ich habe schon
gestern beschlossen: Ab heute bin ich nicht mehr Präsident. Wenn meine
Ratschläge euch helfen können, stehe ich jederzeit zur Verfügung.“
Etwas später fanden die Wahlen statt, Schwanija wurde Ministerpräsident,
und dann wurde er getötet.
RIA Novosti: Wurde er getötet oder vergiftete er sich mit Gas?
Schewardnadse: Getötet. Zuerst hieß es, er habe sich mit Gas vergiftet,
als aber nicht nur unsere Experten, sondern auch welche aus Amerika
eingeladen wurden, bestätigten die Experten die Gasvergiftung nicht. Wo er
getötet wurde und wie das geschah, weiß ich nicht.
RIA Novosti: Eduard Amwrossijewitsch, wie erklären Sie das, was Anfang
November dieses Jahres in Tiflis vorgekommen ist?
Schewardnadse: Das Volk hungert. Ich weiß, auch in Russland sind nicht alle
reich, es gibt bestimmte Probleme in einigen Regionen. Aber gehungert wird
in Russland nicht, und das ist unter anderem ein Verdienst Putins. Er ist
ein intelligenter, sachkundiger Mensch und hat die Angelegenheiten in
Russland auf eine Weise gelenkt, dass das Volk in Russland anständig lebt.
Bei uns aber herrschen absolutes Elend und Hunger.
RIA Novosti: Und wie schätzen Sie die Reaktion der Behörden ein?
Schewardnadse: Als mitgeteilt wurde, dass sich das Volk in Tiflis
versammelt, hätte der Präsident noch am selben Tag vor das Volk treten und
mit ihm sprechen sollen. Hätte er wenigstens die Hälfte davon versprochen,
was er jetzt verspricht, ja auch nur ein Drittel davon, so wäre die Menge
auseinandergegangen. Dann wäre nichts davon geschehen, was geschehen ist.
Und erst die Schließung des Fernsehkanals "Imedi"! Das ist überhaupt
Barbarei, in keinem einzigen Land wird mit dem Fernsehen so verfahren. Sagt
das US-Fernsehen etwa nur Gutes über Präsident Bush? Er wird immer wieder
bezichtigt und kritisiert. Aber weder in Amerika noch übrigens in einem
anderen Land wurden Fernsehkanäle geschlossen.
RIA Novosti: Wie beurteilen Sie die Kräftekonstellation bei den
bevorstehenden Präsidentschaftswahl in Georgien? Wer von den Präsidentschaftskandidaten
kann Ihrer Meinung nach real den Bürgern mehr Nutzen bringen?
Schewardnadse: Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Volk Saakaschwili wählen
wird. Doch die Opposition wird sich nicht unbedingt damit abfinden - es sind
recht starke Persönlichkeiten vertreten, die von vielen unterstützt
werden. Wenn Saakaschwili die Niederlage erleidet, weiß niemand, wie er
sich verhalten wird. Ich meine, dass es wieder zu Unruhen und der Gefahr
eines Bürgerkriegs kommen kann.
RIA Novosti: Und was sagen Sie zu Badri Patarkazischwili?
Schewardnadse: Badri ist dank mir nach Georgien gekommen. Nach ihm wurde
gefahndet, ebenso wie nach einem anderen, Beresowski.
Zu Badri unterhielt ich gewisse Beziehungen. Genauer tat das unsere
Botschaft in der Russischen Föderation. Wenn auf dem russischen
Fernsehkanal ORT, wo er damals geschäftsführender Direktor war, eine
negative Sendung über Georgien vorbereitet wurde, brauchte man nur Badri
anzurufen, und diese Sendung wurde nicht ausgestrahlt.
Übrigens sagte ich Putin gelegentlich: Dem Menschen, nach dem ihr fahndet,
haben wir einen georgischen Pass gegeben und als Bewohner von Tiflis
angemeldet. Putin fragte, ob ich Beresowski meinte. Nein, sagte ich, ich
meine Badri Patarkazischwili. Ach so, Badri, sagte Putin, nein, Badri sei
kein schlechter Mensch, eher gut.
Badri kandidiert ebenfalls bei der Präsidentschaftswahl in Georgien. Ich
sagte übrigens: Wäre ich Präsident, würde ich ihn zum Ministerpräsidenten
ernennen. Ein sehr kluger Mensch, versteht sich darauf, mit Geld umzugehen,
beschäftigte sich gründlich mit Wohltätigkeit, gab viel dafür auch, er
genießt bei uns nicht nur Achtung, sondern auch Liebe.
Aber gegenwärtig ist er nicht in Tiflis. Es wurden irgendwelche Sachen über
ihn ausgegraben. Ich weiß nicht, ob gesetzlich oder ungesetzlich, es heißt,
es sei ungesetzlich.
RIA Novosti: Gestatten Sie mir eine Frage über die Präsidentschaftswahl in
Russland. Wie stehen Sie dazu, dass der Name des künftigen Präsidenten
faktisch bekannt ist?
Schewardnadse: Sehr wichtig ist für mich, dass Putin in der einen oder
anderen Form der Mann Nr. 1 bleibt. Weil er die Mehrheit im Parlament hat
und weil das Volk ihn achtet. Medwedew ist im Volk nicht so gut bekannt wie
Putin. Deshalb wird Putin, falls er Ministerpräsident wird, im Grunde
trotzdem Nr. 1 sein. Über Medwedew habe ich gehört, dass er ein
gebildeter, sachkundiger Mensch ist, persönlich aber kenne ich ihn nicht.
RIA Novosti: Gibt es ein Rezept für eine Verbesserung der Beziehungen
zwischen Georgien und Russland?
Schewardnadse: Alles hängt von den führenden Politikern ab. Ich meine
nicht den künftigen Präsidenten Medwedew, sondern Putin und den Mann, der
in Georgien gewählt wird.
Es bedarf eines Entgegenkommens von beiden Seiten, und den ersten Schritt
muss der georgische Präsident tun. Wenn aber Putin die Initiative ergreift,
wird ihm sicher zur Ehre gereichen, und alle werden der Meinung sein, dass
er ein großmütiger Mensch ist.