von Sven
Redaktion am 4.Feb.2003 18:16
Hallo Melanie,
Hitler buhlte um Anerkennung in höheren Gesellschaftsschichten. Da
macht es sich nicht gut, eine "gescheiterte Existenz" zu
sein.
Deshalb lag ihm daran, seine Obdachlosen-Zeiten politisch positiv
auszudeuten. Und das tat er reichlich.
Seine gescheiterten Bewerbungen belegen, dass Hitler einigermaßen bemüht
und umtriebig war,
aber es spricht vieles für in seiner Person liegende Unstetigkeit,
was schon in Schulzeiten einsetzte.
Sein Postkartenhandel kann nicht lukrativ gewesen sein. Über seinen
Bauchladen kam er nicht hinaus.
Stets fühlte er sich zurückgesetzt, benachteiligt, suchte Ursachen
und Schuld bei anderen. So quengelte er sich durch, bis er im
Soldatischen des ersten Weltkriegs ersten Halt und mit seinem
Tapferkeitsorden erste Bestätigung fand. Dennoch konnte das seinen
Charakter nicht ändern. Im Gegenteil übertrug er das auf seine
Person geübte Selbstmitleid nun auf die Politik in ihrer Gesamtheit:
"die Juden" im Inneren und weltweit als große
(rassistische) Klammer der von ihm gepredigten Benachteiligung
Deutschlands, die in vielem erst recht nach Versailles real war,
wenngleich nicht "jüdisch", sondern schlicht darin begründet
waren, dass Deutschland sich ausgerechnet in Zeiten, als es eigentlich
um Waffenstillstandsverhandlungen ging, so tief in sich zerstritten
war, dass die Feindmächte weit mehr herausholen konnten, als von
Seiten Ludendorfs & Co. vorgesehen.
Hitlers einzige Kontinuität war der Mangel an Kontinuität, sowohl
in persönlichen wie auch in politischen Dingen. Mal schwärmte er für
Rotes, dann wieder für Braunes. Er konnte sich ohne totale Veränderung
keinen gesellschaftlichen Platz in der Realität vorstellen und hätte
es auch im NS nicht vermocht, wenn er nicht eher zufällig durch
gerichtliches Versagen zum NS-Führer geworden wäre. Denn mir stellt
sich so dar, dass sich das Gericht im Putsch-Prozess von 1923 schwer
tat, einen Ludendorf in die volle Verantwortung zu nehmen und deshalb
Hitler in den Vordergrund nahm, obwohl dieser eigentlich nur
Trittbrettfahrer dieses Putsches war. Hitler wurde seiner
"Bewegung" zum "Helden" und der Mythos machte
Fortschritte: mit der Bezeichnung "Hitler-Putsch" wurde/wird
eigentlich ein falsche Geschichtsschreibung transportiert und auch auf
meinen Seiten bin ich an dieser Stelle ungenau, aber großen Tiefgang
darfst Du von uns leider auch nicht erwarten, denn es ist ehrenamtlich
und anstrengend genug.
Hitlers Obdachlosigkeit und Postkartenkunst steht mir also eher für
die Armut eines weichen Menschen, der sich gerade nicht durchzusetzen
wusste. Auch wenn er das später vermochte, aber eben in anderer
Qualität in politischer statt in bürgerlicher Weise mit Beruf,
Familie usw.
Das ist für viele "Politische" in extremistischen Kreisen
typisch: Scheitern oder Mangel im Privaten. Schafft Zeit, die andere
nicht haben. Das muss gar nicht so schlecht sein, wie ich für mich
und meine mich erduldende Familie glaube:-), aber realisiert fast
gesetzmäßig bei solchen Leuten Risiken, die einen Mangel an Liebe
und Wärme haben und deshalb im Hass ihr Heil und ihre Hitze suchen.
Darum zog es ihn dorthin, wo es einzig auf seine selbstinszenierenden
Qualitäten ankam: in die Politik. Und wieder eher in Gruppierungen,
in denen man "ohne alles" zurecht kommen kann: ideologisch
dumpfe, aber radikale Kreise, in denen Brüllerei zur Glaubhaftmachung
des dünnen Inhalts dient. Hitler war sich der Bedeutung der
Dramaturgie restlos bewusst. Rhetorik und Gestik bildete er sich
fortlaufend weiter. Er wollte "Event" sein und ist noch bis
heute, wenn man sich seine Auftritte besieht. Schriftstellerisch
hingegen ist er nur im Nachhinein seiner Machtfülle
"interessant", aber auch dafür reichte seine Talent nicht,
denn er schrieb nicht nur vergleichsweise wenig, sondern auch so
schlecht, dass selbst für extremste Hitler-Fans seine Kampfstory kaum
durchlesbar ist. Ich kenne jedenfalls niemanden, der es geschafft hätte,
obwohl ich reichlich Klientel dieser Art kenne. Natürlich wird es
Leute geben, die es schafften, aber dann wohl eher gegen Bezahlung als
Historiker.
Hitler hatte schlimme Zeiten hinter sich. Deutschland befand sich in
schlimmen Zeiten. Das passte zusammen. Mit feinsinnigen Argumenten tut
man sich in solchen Zeiten schwer. Es waren Zeiten für solche wie
ihn, wenn auch nicht für die Machtergreifung, so doch immerhin für
Putschversuche genügend. Und nicht einmal das war, wie oben begründet,
seine "Leistung".
In einer Rede behauptete er mal: "... eine Bewegung wie aus dem
Nichts geschaffen ..." Damit hatte er annähernd recht. So musste
es ihm vorkommen, der von Geschichte nichts verstand, dem alles
"Schicksal" und "Vorsehung" war, weil er
realistisch genug war, um seine innere Bedeutungslosigkeit und Armut
zu erahnen.
Ohne den 1.Weltkrieg wäre Hitler mit hoher Wahrscheinlichkeit
geblieben, was er war:
ein Postkartenzeichner und NIE hätte man von ihm gehört.
Ohne Versailles, vielleicht eben auch ohne den Putsch von 1923, ohne
die Vielzahl von "schicksalhaftem" Hinzutreten anderer
Personen und Versagensmomente, wäre er ein dumpfer Brüllianer der
Weimarer Republik geblieben und im Abstand der Zeit verblasst, wie
viele vergessen sind, die auf zweiten Plätzen oft viel mächtiger
waren.
Grüße von Sven
Redaktion
DISKUSSION