Präventivkrieg oder Angriffskrieg?

22.6.1941: Krieg gegen die Sowjetunion
Beitrag
03.04.2004

Hallo Peter Gast,

du hast uns viel zum Lesen gegeben, jetzt kriegst du auch nochmal eine ordentliche Abhandlung. Aber keine Bange: es wird das letzte mal sein, dass ich so wohlwollend auf deine Postings eingehe, jedenfalls solange du nichts Neues bringst oder dir selbst eigene Gedanken machst.

Zunächst noch mal drei Sätze zur Geschichtswissenschaft, von der du dir scheinbar kein richtiges Bild machen kannst.
Eine neuere Bibliographie zum Nationalsozialismus (Michael Ruck: Bibl. z. NS. 2. Bd. Darmstadt 2000) versammelt auf über 1500 Seiten mehr als 37.000 bibliographische Nachweise, darunter Quellensammlungen, Monographien, Sammelbände und Aufsätze bis hin zur letzten Detail- und Regionalstudie.

Das verdeutlicht vielleicht die Dimensionen, um die es hier geht. Wir sprechen nicht von einer Hand voll Autoren, die dann über die Präventivkriegsthese abstimmen und die Mehrheit hat Recht. Du kannst jedes beliebige geschichtswissenschaftliche Institut an jeder beliebigen Universität nehmen, die militärgeschichtlichen Forschungsämter, das Institut für Zeitgeschichte in München etc.: sie alle werden die gesicherten Forschungsergebnisse vertreten, die du als 'Überfalldogmatik' diffamierst. Die Präventivkriegsthese ist wissenschaftlich völlig irrelevant, ihre Vertreter (allen voran 'Viktor Suworow') pflegen einen schlampigen Umgang mit Quellenmaterial (besonders die Echtheit der Stalin-Reden kann mit guten Gründen angezweifelt werden), ihre Schlüsse sind spekulativ, werden aber als Tatsachen verkauft und auch vor offener Fälschung schrecken sie nicht zurück. Hoffmann, Maser und Post bringen (entgegen den vollmundigen Ankündigungen) keine neuen Quellen, sondern beziehen sich hauptsächlich auf die Truppenverteilung (sollte dem d.E. nicht so sein, weise es bitte nach).

Dass überhaupt über die Präventivkriegsthese so ausführlich diskutiert wird, liegt vor allem an einem relativ starken öffentlichen Interesse und nicht daran, dass diese Thesen wissenschaftlich von Wert wären.

"Sind wir uns wenigstens darüber einig das Stalin einen Angriffskrieg gegen Mitteleuropa plante ,ganz abgesehen davon ob Deutschland sich bedroht fühlte oder nicht?"

Genauso wenig wie mit Florian und Sven wirst du mit mir Einigkeit darüber erzielen können.

Weil du glaubst, im Text von Uhle-Wetter Indizien für eine solche Interpretation zu finden, soll sein Pamphlet nun noch einmal durchkommentiert werden:

Seine Ausführungen zur deutschen Quellenlage sind insgesamt problematisch. Die angegebenen Fallbeispiele sind selektiv ausgewählt und dekontextualisiert. Anhand von Einzelfällen kann keine insgesamt unübersichtliche Situation nachgewiesen werden; wenn zugleich verschwiegen wird, in wie vielen Fällen allgemeiner Konsens über den Charakter der Quellen besteht, setzt sich der Autor dem Vorwurf bewusster Manipulation und Verunklarung aus.

Einschlägige Quellen sind z.B.:

- Das Kriegstagebuch von Halder (Chef des Generalstabes). In der Eintragung vom 31.7.1940 ist u.a. zu lesen:
"Ist aber Rußland zerschlagen, dann ist Englands letzte Hoffnung getilgt.
Der Herr Europas und des Balkans ist dann Deutschland.
Entschluß: Im Zuge dieser Auseinandersetzung muß Rußland erledigt werden."

- Hitlers Weisung Nr.21 vom 18.12.1940:
"Die deutsche Wehrmacht muß darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen (Fall Barbarossa). [...]
Den Aufmarsch gegen Sowjetrußland werde ich gegebenenfalls acht Wochen vor dem beabsichtigten Operationsbeginn befehlen. Vorbereitungen, die eine längere Anlaufzeit benötigen, sind - soweit noch nicht geschehen - schon jetzt in Angriff zu nehmen und bis zum 15.5.1941 abzuschließen.
Entscheidender Wert ist jedoch darauf zu legen, daß die Absicht eines Angriffs nicht erkennbar wird."
(Nachzulesen in: W. Michalka (Hg.): Deutsche Geschichte 1933-1945. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik. FfM 1993.)

Wissenschaftlich unsinnig ist es, seine Erkenntnisse auf Spekulationen hinsichtlich des Nichtvorhandenen aufzubauen (wie Uhle-Wetter es tut). Es ist zwar nicht verboten, kontrafaktisch zu spekulieren, aber man verlässt damit definitiv den Boden gesicherter Erkenntnis, die eben nur auf Grundlage des Vorhandenen aufgebaut werden kann, und ist in der Pflicht, seine Spekulationen als solche zu kennzeichnen.

Uhle-Wetters Ausführungen zur sowjetischen Seite hinsichtlich der Quellen ist ebenso pauschal und wenig von Sachkenntnis getrübt. Aber selbst, was er festhält, ist angetan, seinen revisionistischen Mitstreitern das Wasser abzugraben (besonders Suworow, der ausgiebig Memoirenliteratur zitiert).

Der Rest von Uhle-Wetters Abhandlung bezieht sich wieder einmal auf die Truppenverschiebungen, wobei er sich dann selbst in Widersprüche verstrickt:

"Beide Seiten, also auch Stalin, müssen etwa ab April, spätestens ab Mai den Aufmarsch des Gegners erkannt haben. Alle seitdem von ihnen getroffenen Maßnahmen lassen sich, nach nach Präferenz des Betrachters, als Angriffs- und als Verteidigungsmaßnahmen deuten. Sie eignen sich demnach kaum zur Stützung oder zur Widerlegung irgend welcher Thesen."

Wenige Zeilen später der überraschende Schluss:

"Es war ein Offensivaufmarsch"

Aus der Aufstellung der Verbände können keine grundlegenden Schlüsse über die zukünftige sowjetische Politik gezogen werden, sie können aber viel einfacher erklärt werden, nämlich als Umsetzung der sowjetischen Militärdoktrin einer offensiven Verteidigung. Und diejenigen russischen Quellen, die zugänglich sind, bestätigen genau dieses Bild:
Die Einsatzpläne vom 18.11.1940 und vom 15.5.1941 formulieren die Strategie der Roten Armee, auf einen möglichen Angriff mit einer Gegenoffensive zu reagieren. Daraus erklären sich sowohl Details wie Brennstofflagerungen an der Grenze als auch die Offensivanweisungen an sowjetische Militärs. Über den Gehalt dieser Einsatzpläne besteht auch unter sowjetischen Historikern weitgehende Einigkeit, weshalb sich Herr Uhle-Wetter auch entschließt, die entsprechenden Erkenntnisse lieber aus seiner Abhandlung herauszuhalten:

"Noch eine Vorbemerkung: Diese Studie verzichtet auf eine Darstellung sowie Bewertung der russischen Operationsentwürfe und Kriegspiele, wie etwa dem sowjetischen Aufmarschplan vom 15.Mai 1941,[lxix] über deren Deutung längst ein heftiger Federstreit um Überlieferung, Glaubwürdigkeit und Bedeutung entstanden ist."

Wer die einschlägigen Aufsätze selbst nachliest, wird erstaunt sein, was Herr Uhle-Wetter unter einem "heftigen Federstreit" versteht.
(Grundlegendes ist nachzulesen in:
B. Pietrow-Ennker (Hg.): Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. FfM 2000.)

Darüber hinaus ist es abwegig, nur mit Zahlen aufzuwarten, ohne den inneren Zustand der Roten Armee, d.h. die qualitative Seite (Ausbildungsstand, Motivation, Organisation, Qualität des Personals nach den Säuberungen) ebenfalls zu beschreiben: Hier stand es nämlich nicht zum Besten.

Dass eine subjektive Bedrohungssituation aus der Perspektive Deutschlands vorlag, hatten wir ja schon ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund obiger Informationen kann aber auch eine objektive Bedrohungssituation faktisch nicht mehr erhärtet werden.

Uhle-Wetters Ausführungen zur Außenpolitik suggerieren mehr oder weniger folgende, unverschämte Interpretation: Das friedliebende Deutschland ist von den maßlosen Forderungen Molotovs zum Angriff provoziert worden.

"Stalins Zumutungen lassen nur zwei Deutungen zu: Er glaubte, Hitler, zwischen Sowjetarmee und England/USA eingeklemmt, sähe sich gezwungen, sich der Sowjetunion auf Gnade und Ungnade unterwerfen. Oder Stalin wollte Hitler bewusst zum Angriff provozieren. Welche der Möglichkeiten zutrifft, lässt sich aus Quellenmangel nicht entscheiden."

Diese seltsame Ergebnis, die machtpolitische Selbstüberschätzung der SU, steht völlig quer zum Forschungsstand, der die Sowjetunion zwar als langfristig machtpolitisch ambitioniert beschreibt, zugleich aber ein starkes Sicherheitsbedürfnis betont (als Konsequenz aus der notwendigen Abgrenzung vom kapitalistischen Westeuropa), aus dem sich wiederum die verstärkten Rüstungsbemühungen ergeben. Es gibt viele Indizien dafür, dass sich die SU Anfang der 40er Jahre einer militärischen Konfrontation mit dem Westen als noch nicht gewachsen ansah - ganz abgesehen von der strategischen Unsinnigkeit eines solchen Unternehmens zu einem Zeitpunkt, an dem weder Deutschland noch England ihr Rüstungspotential voll entfaltet hatten (Sven hat darauf hingewiesen).

Zur Ernsthaftigkeit der Unterredungen Hitler-Ribbentrop-Molotov existiert eine einschlägige Quelle, die darlegt, wie wenig Deutschland das Opfer überzogener sowjetischer Forderungen war (so ja die Lesart von Uhle-Wetter):
Hitlers Weisung Nr.18 vom 12.11.1940:
"Gleichgültig, welches Ergebnis diese Besprechungen haben werden, sind alle schon mündlich befohlenen Vorbereitungen für den Osten fortzuführen. Weisungen darüber werden folgen, sobald die Grundzüge des Operationsplanes des Heeres mit vorgetragen und gebilligt sind."
(W. Hubatsch (Hg.): Hitlers Weisungen für die Kriegsführung 1939-1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht. Koblenz 1983.)

Wirklich entscheidend ist aber folgendes Faktum: Die deutschen Angriffspläne und operativen Ziele (Hitlers Weisung Nr.21 s.o.) waren der sowjetischen Führung bekannt!
Vor diesem Hintergrund (der von allen Präventivkriegstheoretikern vernachlässigt wird) sind die sowjetischen Militärformierungen grundsätzlich anders zu bewerten:

"Es ist ein fragwürdiges Unterfangen, die Pläne der Roten Armee als Zeichen für einen von den deutschen Vorbereitungen unabhängigen Aggressionswillen zu deuten. Diese Pläne gingen vielmehr von der Erwartung eines deutschen Angriffs aus, dem mit einer starken Defensive und einem anschließenden offensiven Gegenschlag begegnet werden sollte."
(Manfred Messerschmidt: Präventivkrieg? Zur Kontroverse um die deutsche Außen- und Militärpolitik vor dem Angriff auf die SU. In: Pietrow-Ennker (Hg.): Präventivkrieg? FfM 2000. S.32.)

Resümierend lässt sich Folgendes festhalten:
- Für einen deutschen Offensivangriff liegen nicht nur zahlreiche Quellen und Belege vor, er ist im Rahmen der militärstrategischen Situation 1940/41 und vor dem Hintergrund der ideologischen Zielsetzungen des NS auch plausibel. Militärstrategisch erklärt sich die Hinwendung nach Osten aus der Tatsache, dass im Jahre 1940 zunehmend klar wurde, dass ein eindeutiger Sieg über England nicht mehr errungen werden konnte und die USA vermutlich bald in den Krieg eintreten würden. Ein schneller Sieg über die SU hätte die deutsche Position entscheidend gestärkt. Die ideologische Motivation lag in der Entfaltung einer rassistischen Volkstumspolitik, die ja dann auch skrupellos umgesetzt wurde mit verheerenden, katastrophalen und tödlichen Folgen für Millionen von Menschen.
- Für eine sowjetischen Offensivangriffsplanung liegen dagegen keine Belege vor; die Hauptindizien der Präventivkriegstheoretiker, die Verteilung der Truppenkontingente, sind keine stichhaltigen Belege, sondern können und müssen im Rahmen einer (taktisch offensiven) Defensivstrategie gedeutet werden, die auch, zumindest für das Jahr 1941, der gesamtstrategischen Situation der SU entspricht. Die sowjetische Politik gegenüber Deutschland hatte, vor dem Hintergrund der Kenntnis über deutsche Angriffspläne in Moskau, im Jahre 1941 denn auch eher beschwichtigenden Charakter, getragen von der Hoffnung, die Konfrontation noch bis 1942 verzögern zu können. Diese Situation ist durchaus mit der Annahme langfristiger expansiver Pläne der SU vereinbar.

Hilfreich ist es auch, sich einmal klarzumachen, dass die Annahme eines Weltanschauungskrieges zwischen Kommunismus und Faschismus, die Deutschland scheinbar zum prädestinierten Gegner der SU machte, eine Propagandakonstruktion des Nationalsozialismus selbst gewesen ist, die bis in die Gegenwart fortwirkt. Stalin selbst war lange Zeit nicht geneigt, zwischen dem faschistischen Deutschland und dem kapitalistischen Westen prinzipiell zu unterscheiden.

Letztlich geht die Präventivkriegsthese auf die nationalsozialistische Propaganda selbst zurück, auf den Versuch, einen rassistischen Krieg als Rettung des Abendlandes vor dem Bolschewismus umzudeuten. Keiner weiß, was gewesen wäre, wenn der Kriegsverlauf ein anderer gewesen wäre... Vielleicht wäre eine militärische Konfrontation mit der Sowjetunion auf anderem Wege später zustande gekommen. Mit letzter Sicherheit lässt sich diese Frage aber natürlich nicht beantworten. Für das Jahr 1940/41 kann ein Aggressionsplan der Sowjetunion gegen Deutschland aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Wenn du noch fragen hast, frag, aber bitte verschone mich jetzt mit neuen revisionistischen Machwerken, die dazu führen, dass ich wieder von vorne anfangen muss, ohne dass man hoffen darf, dass irgendetwas vom Geschriebenen bei dir ankommt.

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