Schächtverbot verfassungswidrig
BVerfG-Urteil vom 15. Januar 2002 - Az. 1 BvR 1783/99 -
Karlsruhe, den 15. Januar 2002Mit Urteil vom heutigen Tage hat der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde eines türkischen muslimischen Metzgers
stattgegeben, der eine Ausnahmegenehmigung von dem allgemeinen gesetzlichen Verbot erstrebte, Tiere ohne Betäubung zu schlachten (zu schächten).
Der Hintergrund des Verfahrens ist dargestellt in der Pressemitteilung Nr.
97/2001 vom 15. Oktober 2001, die auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts nach
gelesen werden kann.
Der Erste Senat stellt fest, dass § 4 a des Tierschutzgesetzes (TierSchG) verfassungsgemäß ist, seine Auslegung und Anwendung durch die Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichte in den angegriffenen Entscheidungen den Anforderungen des Grundgesetzes (GG) jedoch nicht gerecht werden. Nach Absatz 1 dieser Norm ist das Schächten grundsätzlich verboten.
Absatz 2 eröffnet jedoch die Möglichkeit, aus bestimmten - auch religiös motivierten - Gründen eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen.
Im Ausgangsverfahren ging es um die zweite Alternative der Nr. 2 dieses Absatzes; danach darf eine Ausnahmegenehmigung nur erteilt werden, soweit es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich des Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen.
Der Senat stellt klar, dass das Schächten für einen muslimischen Metzger in erster Linie eine Frage der Berufsausübung und nicht der Religionsausübung ist. Ein gläubiger Moslem hat diese Tätigkeit allerdings unter Beachtung religiöser Vorschriften auszuüben. Deshalb ist das Grundrecht der Religionsfreiheit als Maßstab für die Auslegung von Vorschriften, die die Berufsausübung einschränken, ergänzend und deren Schutz verstärkend heranzuziehen. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Berufsausübungsfreiheit eingeschränkt werden kann. Hierbei ist insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.
Danach ist § 4 a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG mit dem Grundgesetz verein bar. Der Gesetzgeber hat durch das allgemeine Schächtverbot wie durch die Ausnahmeregelung des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG in zulässiger Weise den Belangen des Tierschutzes Rechnung getragen. Seine Grundannahme, dass es Tieren weniger Schmerzen und Leiden bereitet, wenn sie vor dem Schlachten betäubt werden, ist zumindest vertretbar. Durch die Möglichkeit, Ausnahmegenehmigungen zu erteilen, wird aber auch den Grundrechten muslimischer Metzger hinreichend Rechnung getragen, deren Berufsausübung unter Beachtung ihrer religiösen Überzeugung so ermöglicht wird. Sie können damit ihre muslimischen Kunden mit dem Fleisch geschächteter Tiere beliefern und auf diese Weise in den Stand setzen, Fleisch in Übereinstimmung mit ihrer Glaubensüberzeugung zu verzehren.
Dies gilt allerdings nur, wenn § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG nicht wie seit einem Ur teil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 1995 (BVerwGE 99, 1) so ausgelegt und angewandt wird, dass die Vorschrift für muslimische Metzger praktisch leer läuft. Ein solches Ergebnis lässt sich durch eine verfassungsgemäße Auslegung der Tatbestandsmerkmale
"Religionsgemeinschaft" und "zwingende Vorschriften" vermeiden. Der Begriff der Religionsgemeinschaft ist, wie inzwischen in einer neueren Entscheidung (BVerwGE 112, 227) auch das Bundesverwaltungsgericht angenommen hat, nicht in dem Sinne zu verstehen, dass es sich um eine Religionsgesellschaft oder -gemeinschaft im Verständnis des Art. 137 Abs. 5 der Weimarer Reichsverfassung oder des Art. 7 Abs. 3 GG handeln müsste. Für die Bewilligung einer Ausnahmegenehmigung vom Schächtverbot ist vielmehr ausreichend, dass der Antragsteller einer Gruppe von Menschen angehört, die eine gemeinsame Glaubensüberzeugung verbindet. Als Religionsgemeinschaften kommen im vorliegenden Zusammenhang deshalb auch Gruppierungen innerhalb des Islam in Betracht, deren Glaubensrichtung sich von derjenigen anderer islamischer Gemeinschaften unterscheidet. Diese Auslegung des Begriffs der Religionsgemeinschaft steht mit der Verfassung im Einklang und trägt insbesondere Art. 4 GG Rechnung. Sie ist auch mit dem Wortlaut der genannten tierschutzrechtlichen Vorschrift vereinbar und entspricht dem Willen des Gesetzgebers. Dieser wollte die Ausnahmemöglichkeit nicht nur für Angehörige der jüdischen Glaubenswelt, sondern auch für Mitglieder des Islam und seiner unterschiedlichen Glaubensrichtungen eröffnen.
Mittelbar hat das Konsequenzen auch für die Handhabung des weiteren Merkmals "zwingende Vorschriften", die den Angehörigen der Gemeinschaft den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Ob dieses Merkmal erfüllt ist, haben die Behörden und im Streitfall die Gerichte zu entscheiden. Allerdings kann diese Frage bei einer Religion, die - wie der Islam - unterschiedliche Auffassungen zum Schächtgebot vertritt, nicht mit Blick auf den Islam insgesamt oder die sunnitischen oder schiitischen Glaubensrichtungen dieser Religion beantwortet werden.
Die Frage nach der Existenz zwingender Vorschriften ist vielmehr für die konkrete, gegebenen falls innerhalb einer solchen Glaubensrichtung bestehende Religionsgemeinschaft zu beurteilen. Dabei reicht es aus, dass derjenige, der die erstrebte Ausnahmegenehmigung zur Versorgung der Mitglieder einer Gemeinschaft benötigt, substantiiert und nachvollziehbar darlegt, dass nach deren gemeinsamer Glaubensüberzeugung der Verzehr des Fleischs von Tieren zwingend eine betäubungslose Schlachtung voraussetzt. Ist eine solche Darlegung erfolgt, hat sich der Staat, der ein derartiges Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft nicht unberücksichtigt lassen darf, einer Bewertung dieser Glaubenserkenntnis zu enthalten.
Die Behörden und die Verwaltungsgerichte haben im Ausgangsverfahren die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer solchen Auslegung verkannt und sind daher bei der Anwendung der Ausnahmeregelung vom Schächtverbot zu Lasten des Beschwerdeführers zu einer unverhältnismäßigen Grundrechtsbeschränkung gelangt.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat deshalb die angegriffenen Gerichtsentscheidungen aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
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Die Inidia-Diskussion war in Abschnitte gegliedert (Schächten erlaubt), um sachlich einzelne Punkte abhaken zu können, aber es blieb bei Allgmeinplätzen.