Jung, Dr. Franz-Josef
MdB, Bundesminister der Verteidigung, Bundesrepublik Deutschland

Datei: Sicherheitspolitik200802Jung

Die Welt in Unordnung -veränderte Machtverhältnisse, fehlende Strategien
08.02.2008



Franz-Josef Jung, Foto von Kai Mörk

Lieber Herr Teltschik, Exzellenzen, meine Damen und Herren!


Wenn sich die Welt um uns verändert, tut es gut, auf sicherem Grund zu stehen und sich auf seine Fundamente zu besinnen. Die NATO gehört unzweifelhaft zu diesen Grundlagen. Als "Bindeglied zwischen zwei Kontinenten stellt sie ein einzigartiges politisches und militärisches Instrumentarium zur Wahrung und Wiederherstellung des Friedens bereit." So heißt es im Weißbuch 2006 der deutschen Bundesregierung. Dies ist der Anspruch. Wie aber sieht die Wirklichkeit aus? Stehen wir dort, wo wir hinmöchten? Ist der Zustand der Allianz so, wie wir ihn uns wünschen? Ich fürchte, er ist es noch nicht. Vieles spricht dafür, dass wir noch eine Reihe von Voraussetzungen schaffen müssen, um weitere Fortschritte zu erzielen.


Dies ist die Aufgabe der politischen und der militärischen Transformation der Allianz, und dieser Aufgabe müssen wir uns stellen. Der Gipfel der NATO Staats- und Regierungschefs in Bukarest bietet dazu die nächste Gelegenheit.


Zur Bestandsaufnahme: Wir brauchen eine stärkere Kooperation mit unseren Partnern. Wir brauchen mehr Dialog und Konsultation als Grundlage gemeinsamer Entscheidungen. Vor allem aber brauchen wir mehr Einigkeit in unseren Absichten.


Wir müssen aktuelle Fragen der internationalen Sicherheitspolitik in ihrer ganzen Breite diskutieren und dabei noch stärker als bisher zu einem politikübergreifenden Ansatz gelangen. Nur so kann die NATO ihren vollen Wert als Bündnis entfalten.

Die Atlantische Allianz ist Teil einer großen internationalen Gemeinschaft. Und nur, wenn wir in einem vernetzten Ansatz unser Handeln aufeinander abstimmen, werden wir den Erfolg haben, den wir brauchen.

Gelingt uns dies heute? Vielleicht in Teilen, aber insgesamt ist das Ergebnis noch nicht befriedigend. Die Zusammenarbeit NATO-EU ist in den Einsatzgebieten von heute notwendiger denn je. Politisch stützt sie sich indes noch immer auf Verfahren von 1997. Hier müssen wir dringend vorankommen. Pragmatische Zusammenarbeit in kleinen Schritten, mit denen wir im Einsatz das Beste aus der Lage machen, reicht nicht aus. Es bedarf grundsätzlichen politischen Einvernehmens - gerade zwischen NATO und EU -, um zu wirklichen Erfolgen bei der Anwendung der vielfältigen zivilen und militärischen Mittel zu kommen, die uns - dem Westen insgesamt - zur Verfügung stehen.

Bestehende Blockaden zwischen beiden Institutionen zu überwinden und unsere Zusammenarbeit auf eine höhere Ebene zu heben, muss daher politische Priorität haben. Nur so können wir für den Erfolg unserer Einsätze sorgen. Nur so können wir die jeweiligen Stärken nutzen und Synergien erzeugen. Beide Organisationen werden am Ende davon profitieren.

Tragen Sie zur Überwindung dieser Blockade bei! Dies kommt unserer gemeinsamen Mission zugute, und dies kommt den Soldaten und zivilen Aufbauhelfern zugute, die dabei ihr Leben riskieren. Und auch für die Kooperation mit den Vereinten Nationen gilt: in den Einsatzgebieten gut, aber auf politischer Ebene nicht ausreichend. Die Unterzeichnung der NATO-VN-Erklärung wäre ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Sie würde die praktische Zusammenarbeit um eine institutionelle Komponente ergänzen. Damit wäre ein intensiverer Austausch auf politischer Ebene möglich und das gegenseitige Verständnis würde verbessert. Und in einer idealen Welt wäre das Ergebnis eine breitere und effektivere Zusammenarbeit ohne Duplizierung.
Die für Sicherheit zuständigen internationalen Organisationen sind auf Gedeih und Verderb auf Zusammenarbeit angewiesen. Die verfügbaren Ressourcen sind zu gering und zu wertvoll, als dass man sie unnötig verbrauchen sollte.

Vor einem Einsatz der Allianz muss ein Gesamtkonzept der Vernetzten Sicherheit erstellt sein. Denn nur wenn die Unterstützungsleistungen der einzelnen Akteure in den Konfliktregionen dieser Welt zielgerichtet zusammengeführt und koordiniert werden, ist eine langfristige und nachhaltige Stabilisierung möglich.

Wie wichtig Zusammenarbeit auf diesem Feld ist, zeigt ganz deutlich das Beispiel Afghanistan. Die NATO, und mit ihr die internationale Staatengemeinschaft, steht in Afghanistan vor großen Herausforderungen. Von der instabilen Sicherheitslage über die Drogenökonomie, den schleppenden wirtschaftlichen Wiederaufbau bis hin zur mangelnden Präsenz und Autorität der Regierung. Vor diesem Hintergrund ist ein konkreter zivilmilitärischer Gesamtansatz, ein politischstrategischer Plan, für das Land unabdingbar. Wer entscheidet was? Wer hilft wo und in welchem Umfang? Wir müssen klare Zielvorgaben formulieren und deren Umsetzung kontrollieren. Was wir brauchen, sind Kriterien für den Erfolg. NATO, EU, VN, Gebernationen und die afghanische Regierung selbst - wir alle sind gefordert.

Das Bündnis braucht eine Gesamtstrategie für Afghanistan, in der die Zielsetzung unseres Einsatzes und die daraus abzuleitenden Aufgaben von ISAF zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Sicherheit identifiziert und definiert werden.

Wir müssen auch bei den Unterstützungsleistungen zum Wiederaufbau und für good governance sowie bei die Einbindung der Nachbarstaaten, allen voran Pakistans, weiterkommen. Vorschläge für eine solche Gesamtstrategie habe ich auf dem informellen Treffen der Verteidigungsminister der Allianz in Noordwijk unterbreitet. Wir haben uns darauf verständigt, bis zum Gipfel in Bukarest diese Strategie in Form eines Comprehensive Strategic Political Military Plan zu erarbeiten.

Jedes einzelne Mitglied steht in der Pflicht. Deutschland hat von Anfang an den Wiederaufbau Afghanistans unterstützt. Seit Beginn von ISAF sind wir einer der größten Truppensteiler, tragen in der Nordregion die

Verantwortung für das Gelingen der Mission und unterstützen die ISAF-Partner landesweit. In unserem Verantwortungsbereich setzen wir einen Schwerpunkt bei der Ausbildung der afghanischen Armee, den wir im Laufe des Jahres noch verstärken wollen. Das Ziel bleibt eine selbsttragende Stabilität in Afghanistan.
Ich habe deshalb entschieden, dass die Bundeswehr ab Juli die taktische Reserve (Quick Reaction Force) in der Nordregion stellen wird, die bisher von Norwegen vorgehalten wurde. Das damit verbundene Aufgabenpaket werden wir im Rahmen des uns vom Deutschen Bundestag gegebenen Mandates vollumfänglich wahrnehmen. Im Kosovo ist das Erreichte ganz wesentlich dem KFOR-Einsatz der NATO zu verdanken. Es kommt nun darauf an, auch unter sich verändernden Rahmenbedingungen die positive Wirkung aufrechtzuerhalten. Dies wird am besten gelingen, wenn Serbien eine europäische Perspektive geboten wird.

Nicht nur in ihren Einsätzen ist die Allianz gefordert. Wir müssen auch die NATO-Strukturen weiterentwickeln.
Wir wollen die volle Integration Frankreichs in die militärischen Strukturen der Allianz, und das schließt den Verteidigungsplanungs-prozess mit ein. Dies stärkt den europäischen Pfeiler und festigt die Partnerschaft Nordamerikas mit Europa. Diese Partnerschaft ist heute notwendiger denn je: Je stärker die einzelnen Pfeiler, desto stärker das Bündnis als Ganzes. Erweiterung: Bukarest wird Entscheidungen über die Erweiterung der Allianz bringen. Dabei gilt es, grundsätzlich zwei Punkte zu beachten. Erstens: Die NATO ist nicht nur ein militärisches Bündnis. Sie war und ist immer auch eine Gemeinschaft der Werte. Unsere Tür steht offen für jene, die bereit sind, sich die Grundsätze unserer Allianz zu eigen zu machen. Aufnahme, das darf nicht vergessen

werden, ist an Leistung gebunden. Dies sollte Ansporn genug für die Aspiranten sein, in ihrem Reformeifer nicht nachzulassen. Zweitens: Die NATO versteht sich selbst als „Security Provider" für Europa. Sie möchte Stabilität innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen fördern. Die Aufnahme eines neuen Landes soll die Allianz in dieser Rolle unterstützen und weiterbringen. Nur so gewinnen wir dauerhaft Stabilität. Und deshalb wird die Perspektive einer NATO-Mitgliedschaft in naher Zukunft auch für Kroatien, Albanien und Mazedonien nicht nur für die einzelnen Staaten ein Mehr an Sicherheit bringen, sondern die Region insgesamt stabilisieren. Eine besondere Partnerschaft pflegen wir mit Russland. Wir schätzen den NATO-Russland-Rat als ein Forum für Dialog über Themen, die uns alle betreffen. Dabei geht es darum, einander ernst zu nehmen und gemeinsam pragmatische Lösungen auf anstehende Probleme zu finden.

Dazu gehört auch das Thema Raketenabwehr. Wichtig ist, dass es im Bündnisgebiet keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit gibt. Deshalb müssen wir eine kombinierte MD-Fähigkeit aufbauen, die die nationale Planung der USA mit der NATO verbindet. Dies können wir jedoch nur im Dialog mit unseren Partnern erreichen. Die Vereinigten Staaten haben weitreichende Vorschläge für eine konstruktive Zusammenarbeit mit Russland unterbreitet. Dies ist eine gute Diskussionsgrundlage.

All diese Überlegungen müssen zu gegebener Zeit in ein neues Strategisches Konzept einfließen. Nie war das Aufgabenfeld der Allianz breiter, nie ihr Einsatz fordernder, nie die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit größer. Grund genug, um auch in Zukunft in unseren Anstrengungen nicht nachzulassen. Augenmaß, Geduld und Leidenschaft sind die Gebote der Stunde. Dies wünsche ich uns allen. Ich bin sicher: der Einsatz lohnt sich, und er führt zum Erfolg.

Vielen Dank.

Es gilt das gesprochene Wort!           Quelle: www.securityconference.de 

Kommentar >> Friedensappell anlässl. der 44. Münchner Sicherheitskonferenz

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