Rede von Bundeskanzlerin Merkel vor der UN-Generalversammlung in New York
Di, 25.09.2007
Herr Präsident,meine Damen und Herren!
Ich gratuliere Ihnen, Herr Präsident, zu Ihrer Wahl zum Vorsitzenden dieser
62. Generalversammlung und wünsche Ihnen viel Erfolg!
Meine Damen und Herren,wir leben in einer Zeit mit gewaltigen Umbrüchen.
Großartige Perspektiven stehen dicht neben erheblichen Risiken. Das Gefüge
der Welt verändert sich. Die Vernetzung von Staaten, Wirtschaft und
Gesellschaften erreicht ein bisher unbekanntes Maß. Das nennen wir
Globalisierung.
Das Gute an dieser Entwicklung ist: Der Wohlstand nimmt zu. Immer mehr
Menschen befreien sich aus Armut. Das Herausfordernde an dieser Entwicklung
ist: Nicht alle haben ihren fairen Anteil am Wohlstand. Es gibt große
Ungleichgewichte. Deshalb brauchen wir über die nationalen Grenzen hinweg
ein globales Bewusstsein für unsere gemeinsame Verantwortung, um die
zentralen Herausforderungen unserer Welt lösen zu können.
Eine solche zentrale Herausforderung für die Menschheit heute ist ohne
Zweifel der Wandel unseres Klimas. Ich
begrüße es daher sehr, dass Sie, Herr Präsident, die diesjährige
Generalversammlung unter dieses Thema gestellt haben. Nie zuvor war das
Einverständnis unter Wissenschaftlern so groß, die Faktenlage so
eindeutig, der Handlungsbedarf so unbestritten. Jedes Land ist von den
Auswirkungen des Klimawandels betroffen. Keines kann ihn alleine bewältigen.
Nicht zu handeln, das würde immense Kosten und weltweit neue Konflikte
verursachen. Für unser Vorgehen bedeutet das
ganz konkret: Jeder Beitrag einzelner oder von Gruppen von Staaten ist
willkommen.
Aber ich füge ausdrücklich hinzu: Derartige
Beiträge können nur Ergänzungen, sie können niemals Ersatz für ein
Post-Kyoto-Abkommen unter dem Dach der Vereinten Nationen sein. Von
dieser VN-Generalversammlung muss deshalb das Signal für den dazu
notwendigen nächsten Schritt ausgehen, und der ist die Klima-Konferenz auf
Bali. Dort müssen die Umweltminister einen klaren Fahrplan vereinbaren,
damit die Verhandlungen bis 2009 erfolgreich abgeschlossen werden können.
Drei Elemente sind zentral: Eine gemeinsame Verständigung über den Umfang
der Emissionsminderung, eine gemeinsame Verständigung auf faire nationale
Beiträge und eine gemeinsame Verständigung über die Instrumente, die wir
anwenden, um Klimaschutz und wirtschaftliches Wachstum gleichermaßen zu
erreichen. Die Größenordnung des Handlungsbedarfs zeichnet sich immer
klarer ab. Wir brauchen bis zur Mitte des Jahrhunderts mindestens eine
Halbierung der globalen Emissionen. Dafür gibt es eine klare Leitlinie: Sie
ist das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit.
Für die Industrieländer bedeutet dies ambitionierte absolute
Reduktionsziele. Die Europäische Union hat unter deutschem Vorsitz
weitreichende Zielmarken bis 2020 beschlossen. Alle
Industrieländer müssen ihre Emissionen pro Kopf drastisch verringern.
Für die Schwellenländer geht es zunächst darum, ihr Wirtschaftswachstum
von den Emissionen zu entkoppeln. Langfristig müssen sich die Pro-Kopf-Werte
der Industrie- und der Schwellenländer auf dem Niveau des weltweiten
Klimaschutzziels angleichen.
Ein derartiger Prozess der langfristigen Konvergenz bietet
Entwicklungsspielräume für alle. Er überfordert keinen. Und für mich
steht außer Zweifel: Die dazu nötige Verlässlichkeit kann nur der Rahmen
eines VN-Abkommens bieten. So wird sich beim Schutz des Klimas beispielhaft
erweisen, wie es um die Handlungsfähigkeit der Staatengemeinschaft im 21.
Jahrhundert bestellt ist. Denn, meine Damen und Herren, wir Europäer, wir
erleben es tagtäglich auf dem eigenen Kontinent: Für sich genommen ist
jedes Land zu klein, zusammen gelingt uns vieles.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen halte ich drei
Grundsätze für unser aller gemeinsame Zukunft für
entscheidend.
Erstens: Wirtschaftliche Leistungskraft und soziale
Verantwortung gehören zusammen. Dieser Grundsatz gilt für den Umgang der
Staaten mit ihren Bürgern wie für den Umgang der Staaten untereinander. Er
betont das Recht und die Freiheit zur Entfaltung jedes Einzelnen. Zugleich
setzt er auf Zusammenhalt und Solidarität. Abschottung und Protektionismus
erteilt er eine klare Absage. Deshalb streben wir nach einer ausgewogenen
und umfassenden Einigung im Bereich eines multilateralen Handels. Das
bedeutet konkret, dass wir die Doha-Runde bald zum Erfolg bringen. Zu viel
Zeit ist verstrichen. Die letzte Chance zu Verhandlungen in diesem Herbst müssen
wir nutzen. Transparente Finanzmärkte und ein wirksamer Schutz des
geistigen Eigentums gehören ebenso dazu wie rechtliche und soziale
Mindeststandards. Denn ich bin überzeugt: Einen fairen Wettbewerb wird es
ohne gemeinsame Spielregeln nicht geben. Zusammenhalt und Solidarität
werden wir nur in einer globalen Entwicklungspartnerschaft erreichen. Mit
den Millennium-Zielen hat sich die Weltgemeinschaft dafür erstmals messbare
Größen und Zeitvorgaben verbindlich vorgegeben. Deutschland hat sich
zusammen mit seinen Partnern in der Europäischen Union dazu verpflichtet,
das 0,7-Prozent-Ziel der Vereinten Nationen nicht später als 2015 zu
erreichen.
Zu diesen Zusagen stehen wir. Dabei steht außer Frage: Echte Partnerschaft
verpflichtet alle Seiten, und zwar durch einen größeren Einsatz gegen
Korruption, eine bessere Regierungsführung und einen besseren Schutz der
Menschenrechte. Besonders wollen wir Afrika unterstützen. Es gibt
ermutigende Beispiele, aber leider auch schwere Rückschläge, wie zum
Beispiel in Zimbabwe. Wachstum und Verantwortung in der Weltwirtschaft –
das ist deshalb auch der Leitgedanke der deutschen G8-Präsidentschaft.
Der zweite
Grundsatz: Wir müssen die Handlungsfähigkeit der Vereinten
Nationen stärken.
Für mich steht außer Frage: Der Ort, an dem verbindliche gemeinsame
Antworten auf globale Herausforderungen gegeben werden können, sind die
Vereinten Nationen. Aber die Vereinten Nationen haben Reformbedarf. Der
betrifft insbesondere den Sicherheitsrat. Der Sicherheitsrat muss in Krisenfällen
schnelle und allgemein verbindliche Vorschläge entwickeln. Dazu muss er
legitimiert sein. In seiner jetzigen Zusammensetzung spiegelt der
Sicherheitsrat nicht mehr die Welt von heute wider. Es führt deshalb kein
Weg daran vorbei, ihn den politischen Realitäten anzupassen. Deutschland
hat sich in den vergangenen Jahren in der Debatte stark engagiert. Deutschland
ist bereit, auch mit der Übernahme eines ständigen Sicherheitsratssitzes
mehr Verantwortung zu übernehmen.
Was wir jetzt insgesamt brauchen, das sind greifbare Ergebnisse. Wir stehen
auch wirklich nicht mehr am Anfang. Der Reformprozess hat bereits Ergebnisse
erbracht, so zum Beispiel den Bericht der Hochrangigen Arbeitsgruppe im
Entwicklungsbereich und die Kommission für Friedenskonsolidierung. Aber die
Zeit drängt. Denn vielfältige Krisen halten uns in Atem. So
unterschiedlich diese Krisen auch entstanden sind, lösbar sind sie alle nur
multilateral. Der Schlüssel ist
Geschlossenheit und Entschlossenheit.
Dies gilt gerade auch gegenüber dem Iran. Der Iran
hat in klarem Widerspruch zu den Forderungen der IAEO und der VN sein
Nuklearprogramm kontinuierlich fortgesetzt. Über die Brisanz dieses
Programms sollte sich niemand Illusionen machen. Der Iran ignoriert die
Resolutionen des Sicherheitsrates. Er stößt unverhohlene Drohungen gegen
Israel aus. Machen wir uns nichts vor: Wenn der Iran in den Besitz der
Atombombe käme, dann hätte das verheerende Folgen: Zuerst und vor allem für
die Existenz Israels, dann für die gesamte Region und schließlich – weit
darüber hinaus – für alle in Europa und der Welt, denen die Werte
Freiheit, Demokratie und Menschenwürde etwas bedeuten. Deshalb muss
verhindert werden, dass der Iran in den Besitz der Atombombe kommt. Beim
entschlossenen Vorgehen gegen die Provokationen des Iran darf sich die
internationale Gemeinschaft nicht spalten lassen. Nicht die Welt muss Iran
beweisen, dass der Iran die Atombombe baut. Iran
muss die Welt überzeugen, dass es die Atombombe nicht will.
Meine Damen und Herren, jeder deutsche Bundeskanzler vor mir war der
besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Existenz Israels
verpflichtet. Zu dieser besonderen historischen Verantwortung bekenne auch
ich mich ausdrücklich. Sie ist Teil der Staatsraison meines Landes. Das heißt,
die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals
verhandelbar. Und wenn das so ist, dann dürfen das auch keine leeren Worte
bleiben. Deutschland setzt gemeinsam mit seinen Partnern auf eine
diplomatische Lösung. Dazu wird sich Deutschland, wenn der Iran nicht
einlenkt, entschieden für weitere, schärfere Sanktionen einsetzen.
Geschlossenheit und Entschlossenheit sind ebenso der Schlüssel im Kampf
gegen den internationalen Terrorismus, insbesondere in unserem Einsatz für
Sicherheit und Stabilität in Afghanistan. Sie sind auch für die friedliche
Zukunft des Kosovo erforderlich, wo NATO und EU in besonderem Maße
engagiert sind. Wir wollen eine Lösung im Rahmen der VN. Deshalb sind auch
alle Parteien aufgefordert, in den nächsten Tagen Kompromissbereitschaft zu
zeigen. Nachdrücklich unterstützen wir auch die Bemühungen des
Nahost-Quartetts um Frieden in der Region. Deutschland tritt entschieden für
die Vision von zwei Staaten in sicheren Grenzen und in Frieden ein, für das
jüdische Volk in Israel und das palästinensische in Palästina. Wir begrüßen,
dass beide Parteien gerade auch mit Blick auf die im November stattfindende
Nahost-Konferenz ihre Gespräche mit großem Nachdruck fortsetzen.
Der dritte
Grundsatz: Wir müssen die gemeinsamen unverrückbaren Werte
stärken.
Eine der großen Gefahren des 21. Jahrhunderts sehe ich darin, dass aus
Krisen und Konflikten Kulturkämpfe werden. Das darf nicht geschehen.
Deswegen werbe ich für Toleranz – für richtig verstandene Toleranz, denn
Toleranz bedeutet nicht Beliebigkeit. Jeder muss seinen eigenen Weg gehen können.
Aber das muss ein Weg innerhalb der Völkergemeinschaft sein, keiner außerhalb
von ihr. Verlassen wird dieser Weg bei massiven Menschenrechtsverletzungen
wie zum Beispiel in Darfur. Dort spielt sich eine menschliche Tragödie ab.
Zu viel Zeit ist schon verstrichen. Es muss jetzt gehandelt werden. Die
begangenen Verbrechen dürfen nicht ungesühnt bleiben. Verlassen wird
dieser Weg auch in Myanmar, wo ebenfalls die Menschenrechte seit Jahren
nicht respektiert werden. Ich fordere die Regierung auf, keine Gewalt gegen
die friedlichen Demonstranten anzuwenden und endlich den Weg frei zu machen
für eine demokratische Zukunft des Landes. Verlassen wird dieser Weg auch
bei politischen Morden wie im Fall Hariri oder dem erneuten feigen Anschlag
vor wenigen Tagen im Libanon. Das Hariri-Tribunal muss schnell seine Arbeit
aufnehmen. Syrien fordere ich auf, endlich den Libanon diplomatisch
anzuerkennen.
Meine Damen und Herren,ich bin zutiefst davon überzeugt: Wir müssen die
Kraft aufbringen, unseren gemeinsamen Werten von Freiheit und Demokratie
immer wieder neu Geltung zu verschaffen. Dafür brauchen wir ein unverrückbares
Fundament. Wir haben dieses Fundament. Es ist die Charta der Vereinten
Nationen. Sie entstand, als Europa und weite Teile der Welt in Trümmern
lagen. Sie sagt in ihrem Kern: Trotz aller Abgründe und Irrwege in der
Geschichte gibt es die universellen Menschenrechte. Mit anderen Worten: Es
geht um die Achtung und den Schutz der Würde des einzelnen Menschen. Das
ist der tiefe Grund, warum wir hier zusammentreffen und warum wir hier
gemeinsam für die Zukunft unserer Völker arbeiten. Deutschland wird mit
all seinen Kräften dabei mithelfen. Wir freuen uns auf die fruchtbare
Zusammenarbeit mit allen Partnern in den Vereinten Nationen.
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KOMMENTAR
Zunächst: Fettschrift und Rotmarkierung fügte ich hinzu, um auf wichtige
Passagen aufmerksam zu machen.
Die Kursivmarkierung fügte ich hinzu, wenn die Passagen "schräg"
sind, also kritisch kommentiert werden sollten.
Z.B. halte ich es für heuchlerisch, wenn die Bewerbung um einen Ständigen
Sitz im Weltsicherheitsrat
unter dem Motto steht, Deutschland sei "bereit, Verantwortung zu übernehmen",
denn immerhin stellt solch Ständige Weltsicherheitsratsmitgliedschaft eine
große Privilegierung gegenüber anderen Staaten dar, vergrößert den
politischen Vorsprung, den wirtschaftlich starke Staaten ohnehin gegenüber
den ärmeren Staaten ohnehin genießen und innehaben.
Aber die Merkel-Rede enthält auch viele positive Aspekte, z.B. die
Forderung nach Gerechtigkeit im Pro-Kopf-Verbrauch, dann ihr klares
Bekenntnis zur höchsten Autorität der Vereinten Nationen in praktisch
allen globalen Angelegenheiten - einschließlich der Verteidigung der
Menschenrechte.
Insoweit es um die Menschenrechte geht, braucht es indes stets auch das
Bekenntnis, dass sie in ihrer Universalität nicht nur verteidigt werden,
sondern in vielerlei Hinsicht überhaupt erst begriffen und politisch
entwickelt werden müssen.
Der Merkel-Rede fehlte es an Klarheit in der zentralen Frage, dass es für
jegliche Intervention auf dem internationalen Parkett wie in jedem Staate
selbst der Gesetzesvorbehalt
gelten muss - und die Verhältnismäßigkeit
der Mittel.
Und falsch ist es auch, dass Merkel allein dem Iran das Streben nach
Nuklearwaffen unterstellt und verbieten will, nicht aber auf den
Gegenvorwurf Bezug nimmt, dass insbesondere die großen Atomwaffenstaaten
moralisch überhaupt nicht berechtigt sind, anderen Staaten das Streben nach
Atomwaffen zu verbieten. - Diskussion >> http://www.atomwaffentest.de/
Dennoch bin ich insgesamt recht zufrieden mit dieser Rede, so unmöglich ich
der heutigen Bundeskanzlerin vergessen kann, dass sie in ihrer
Oppositionszeit dem US-Präsidenten volle Rückendeckung für dessen
selbstjustizlerischen Krieg gegen den Irak aussprach; siehe www.inidia.de/drohkulisse.htm
-msr-