Rocker

Hallo "Beton-Head",

in der Stadt meiner Kindheit waren begüterte und sozialschwächere Gegenden auch nur durch wenige Straßenzüge voneinander entfernt. Das Jugendzentrum lag genau auf der "Grenze". 
Wegen der vielen dunklen Räume und guten Veranstaltungsmöglichkeiten war es schnell Treffpunkt und Zankapfel von Rockern, Prolls, Kiffern, Dealern, "Itakern", Schuljungs und stets zu wenig Mädchen, die sich dort nicht recht wohl fühlten.

Unsere Rocker hatten sich landesweit einen Namen gemacht, weil sie auf Hinterhalte spezialisiert und "nie verlieren" konnten, wenn sie Rockerbanden entfernter Großstädte beim Feiern überraschten. Wenn sie dann allerdings selbst feierten, konnte passieren, dass die Rocker aus Frankfurt oder Düsseldorf unangemeldet zum "Gegenbesuch" kamen - und dann hatten auch unsere Rocker plötzlich "blaue Augen".

Wenn sich die Rockerbanden nicht überfielen, sondern in analoger Anwendung der Genfer Konvention ordentlich den Krieg erklärten, also Schlachtfeld und Termin, wurde daraus meist nichts: "rein zufällig" stand die geplante gegenseitige Hinrichtung genügend Tage zuvor in den betreffenden Lokalzeitungen und die Polizei war in stets ausreichender Stärke aufgefahren, so dass ein Gemetzel zwischen den Rockern undenkbar wurde. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, dass der Rockerboss gute Kontakte zu örtlichen Journalisten hatte, aber niemand hätte jemals gewagt, ihn danach zu fragen, weshalb da auch nix zu dementieren war.
Einige waren allerdings auch zuhause geblieben wegen "Moped kaputt" o.ä., auch die galten als "verdächtig", aber eigentlich auch eher "unverdächtig", was die friedenssichernden Pressemeldungen anbetraf.  Für die anderen wurde es zum "Ausflug" und man schimpfte über die "blöden Bullen",  zog sich ins Heimische zurück und "feierte" bis das Blut hinreichend mit Gebräuen aus Flaschen und Fässern durchmischt war, so dass die Jungs auch ohne Haue umkippten.
Tags drauf hatten sie dann oft mehr Schmerz und gute Vorsätze, als wenn sie ihren Feinden unter die Fäuste geraten wären. 
Überhaupt scheint die Hauptwirkung aller Gemetzel, dass man statt guter Vorsätze eher nach Rache dürstet. Ganz anders beim Saufen: am nächsten Tag ist man klüger, aber vergisst es halt wieder. 
Deshalb: "Haue ist keine Lösung, Alk aber auch nicht."  Das gilt freilich auch für andere Drogen, womit wir bei der nächsten Problemgruppe wären:

Kiffer wollen mit Haschisch usw. ihr Bewusstsein erweitern, womit sich zumindest andeutet, dass sich eines Problems bewusster sind als beispielsweise die Alkoholsünder.  Aber wenn man sich die Gesichter der Jungs und Mädels hinter den Tüten besah, dann konnten einem schon erste Zweifel kommen, ob die hängenden Augenlider tatsächlich für mehr Licht im Kopf sorgen können. In einigen Selbstversuchen bestätigte sich mir diese Annahme rasch und ich versuchte die Bewusstseinsausbeute durch wieder Nachdenken und Phantasie zu erhöhen als durch giftbedingte Fehlfunktionen, wenngleich ich tatsächlich in Haschisch keine .  Im natürlichen Bestreben des Menschen nach Neuem und Abwechslung kann es dann auch mal Kokain sein und weil Hirn und Körper daraus leider die falschen Schlüsse zieht, verkürzt sich der Weg zu Heroin, was auch daran liegt, dass es Haschisch im Unterschied zu Alk und Nikotin eben nicht einfach im  nächstgelegenen Supermarkt gibt.  

Solange das so ist, werden sich zu den Kiffern stets auch Dealer gesellen und die haben dann meist auch gleich ein breiteres Angebot, in dem sich findet, was es auf Rezept nicht gibt. In den Siebzigern entwickelten sich rasch die erforderlichen Vertriebsstrukturen zwischen Produktion und Endkunden, es braucht Leute, die gern zwischen Holland und NRW hin und her reisten.

Solche Leute hatten Unkosten, die sie dann durch entsprechende Preisgestaltung und Streckung von Pülverchen wieder reinholen mussten. Auch der Nervenkitzel an den damals noch zollkontrollierten Staatsgrenzen Europas mussten auf die Kiffer umgelegt werden.  Sobald Psyche und Körper mehr brauchten als das Taschengeld möglich machte, wurden die Kunden in das Vertriebsmodell als Dealer eingebaut oder mussten stehlen gehen. - Das passierte oft auch mit unserem Jugendzentrum, wenn Jacken oder Anlagen verschwanden. 

Die Dealer waren damals übrigens ausnahmslos Deutsche, was also eher dafür spricht, dass die Dealerei für sich genommen kein "Ausländerproblem" sein kann, sondern ein "Drogenproblem" ist :-), also ein Problem unzureichender Drogenpolitik und nicht etwa "Ausländerpolitik".
 
Neben diesen Gruppen gab es immer reichlich "Prolls", die man einigermaßen ernst nehmen musste, weil sie in ihrer Doofheit keinen Schmerz zu verspüren schienen, andererseits konnte man sie durch Intelligenz in den Bann schlagen und sie ließen sich auch leicht dadurch beeindrucken, wenn sie Zeugen wurden, wie man Rocker vom Hocker holte, denn die immerhin organisierten Rocker versohlten den loseren Proll-Cliquen regelmäßig die Popos, dass denen die Ambulanz längst zur zweiten Heimat geworden war. 

Die Rocker waren mir aus Handballzeiten und Freibad einigermaßen abstandsgesonnen, weil sie als im nüchternen Rohzustand prinzipiell vernunftbegabten Wesen hinreichend über ihren körperlichen Zustand orientiert waren, der durch Alkohol und Nikotin geschwächt in schweren Lederjacken oft nur Strohfeuer für erste paar Minuten entfachen konnte, um dann jämmerlich in sich zu knicken, was aber Leuten, die sich nicht wehren, auch nicht zur Erfahrung werden kann oder zu falschen Schlussfolgerungen führt, was die Überlegenheit von Obsiegenden anbetrifft.

Aber noch heute, wenn ich die Stadt meiner Jugendsünden besuche, ernte ich böse Blicke :-) von manchen, die ihre Jugend überlebten, denn wirklich raffte es dahin. Mit dem Motorrad, mit Messern und den damaligen Big-Boss (er hieß "Laki") sogar per Kugel, allerdings der eigenen, wie es heißt.

Schließlich gab es noch die Gruppen ausländischer Jugendlicher.  Es waren damals vor allem italienische Jugendliche, die noch nicht integriert waren. Unser schlechter Brauch war es, sie abfällig als "Itaker" oder "Spaghetti-Fresser" zu nennen. Das kam bei denen schlecht an und nicht selten verlor man die Kontrolle, was regelmäßig neben Verletzungen  die Zerstörung und Schließung des Jugendzentrums zur Folge hatte.

Allerdings wurden wir uns durch die Hauereien auch gegenseitig persönlich bekannt. Man vertrug sich und stellte fest, dass Lorenzo "eigentlich ganz in Ordnung" war, jedenfalls eher als der ein oder andere Rudi.  

Die Rocker waren diesbezüglich ohnehin "weiter", denn sie waren mit ihren Motorrädern, sonstigen Kultgegenständen und Reisen sowieso "internationaler". Ihr Boss war über all die Jahre unangefochten dieser besagte "Laki", ein Grieche oder "Halbgrieche" - was spielte das für eine Rolle. Keine. Er war eine Ikone unserer Stadt :-))
Und mich mochte er, denn ich war ihm viele Jahre früher als angstloses, kräftiges und faires Kind mit Klettertalent aufgefallen, so dass er mich seither zu meinem Entsetzen "Tarzan" nannte, was sich aber nur im Handballverein durchsetzte und ich mir ansonsten zu ersparen verstand. Überhaupt schonte er Schwächere und Jüngere, watschte mir aber irgendwann eine vor versammelter Rockerschar, weil ich trotz wiederholter Ermahnungen zu viele Jungs aus seinem Club "durchgelassen" hatte. "Durchlassen" war die bei uns gängige Umschreibung für "Niedermachen" bzw. auf "Bürgersteig-Niveau" bringen. Das schadete auf Dauer zu sehr dem Image seiner Horde. Ich erlitt durch seine Ohrfeige mit dem erzwungenen Versprechen auch keinen wirklichen Gesichtsverlust, denn als "Nicht-Hordentier" war einem solches nur Anerkennung für den erreichten Status, den einige Jungs im Alter von 17 so mögen, obwohl es bei den meisten Frauen Minuspunkte bringt, aber wenn die sowieso dauernd die Pille vergaßen, konnte es auf deren Wertung allein nicht ankommen.

Mit Rockern hingegen hatte man indes eben sofort Vergnügungen, die ich mir zeitweise fast täglich bescherte,  weil sie sich leicht zum ersten Schlag provozieren ließen, denn Brutalität war ihr Image und das versuchten sie zu pflegen.
Frauen hingegen stehen gern irgendwo am Rand in der Disko, lassen sich betrachten. Man betrachtet sie - und es passiert NICHTS, jedenfalls zu selten, wie man sich in diesem Alter sicher ist und dafür Kompensation sucht, wenngleich mit anderem Gesichtsausdruck und anderen Spuren.

So ganz "Einzelkämpfer" war freilich auch ich nicht, denn ich "zog herum" mit D.S., mit Th.L., N.B. (tot), mit P.S. (lebt noch wider Erwarten:-), aber unser Image war nicht die "Horde".
Ich denke, dass mein Image ein Mix aus Gegensätzlichkeiten war: "Jesus" mit "Robin Hood-Hobbys", was sich schon widerspricht, früh auch "Politiker", hatte für Aktionen in der Fußgängerzone eine eigene Flugblatt-Maschine gebraucht gekauft (damals irre teuer: 300 Mäuse), schrieb Texte, denen die Übertreibung in der Wortwahl das Mindeste war. Aber in vielem war ich gern ein "Clown", was schulisch Probleme machte, wovon ich zuhause stetst nur in der dritten Person berichtete und Stürme der Begeisterung auslösen konnte, bis der Familie durch blaue Briefe und Einladungen offenbar wurde, dass ich von mir erzählte.
Die Probleme ließen sich nicht so einfach abstellen, wie sie gekommen waren und führten zur Verbannung auf ein Internat, dass sich allerdings auf mich nicht einzustellen verstand, so dass ich mir die höhere "Reife" wieder auf einer normalen Schule zu holen hatte, jedoch nicht, ohne mich auch dort und sofort in den Vordergrund gespielt zu haben, indem ich Schülersprecher wurde und damit ein schickes Büro zum Ausschlafen eroberte, wenn ich von Schlachthof-Nachtschicht oder Disko-Fernreisen das Schulgelände meist mit deutlicher Verspätung erreichte. Eine wirklich anstrengende Zeit.  Dazu noch diese fürchterliche Anziehungskraft, die  Mädchen auf mich ausübten und mir den Blick dafür verstellten, was die eigentliche Bedeutung von "Schule"  anbelangt. So war man allgemein froh, dass es irgendwann damit sein glückliches Bewenden hatte. 

Auch damals gab es vereinzelte Rechtsextremisten, aber nicht nennenswert. Man hätte sie einfach solange vermöbelt, bis sie ihre ausgestreckten Arme ins Gebet zusammengefaltet hätten. Es waren so wenig, dass sie sich nirgends hätten ausheulen und wieder aufrichten können.  NPD und ähnliches waren Opa-Vereinigungen und das viele NEUE war  einfach zu attraktiv für Jugendliche, dass sie sich dauerhaft für Vergangenes, noch dazu Kapituliertes hätten begeistern können. 
Also wie gesagt, "man hätte sie vermöbelt", konnte es aber nicht, weil es sie so gut wie nicht gab. Egal, wir hatten auch ohne Rechtsextremisten unsere Abwechslung.

Damals waren die "Probleme" der Jugendlichen eben 'nen bisschen anders gelagert als heute:

Wer wollte, fand leichter Lehrstelle und Arbeitsplatz, aber man wollte eher auch andere Sachen, die damals NEU waren.

Der Sex war "neu", denn Aids gab es nicht, zumindest nicht bekannt, die Pille ermöglichte Umgangsformen, die unseren Eltern in ihrer Jugend versagt waren, so dass sie uns nun nicht  gönnten, was uns möglich war, obwohl damals noch Elternsprüche geläufig waren wie: "Unsere Kinder sollen es einmal besser haben", aber so viel besser, das nervte die "Alten" vermutlich.

Die Musik war "neu".  Neu ist Musik zwar in jeder Generation, aber die vorherige kann sich daran nie gewöhnen.  Es waren u.a. Deep Purple, Uriah Heep, schnelle Gitarrensolos oder dumpfe, schwere Bässe und darunter auch viele böse Texte, aber eben nicht gegen "Rassen" und so'n Quatsch, sondern gegen die Langweiligkeiten normalen Wohlstandslebens und anderen Quatsch:-)

Die Mode war "neu", was sie auch immer ist (samt ihren Rückbesinnungen). Damals waren es Schlaghosen, die untenherum an Sackhüpfen erinnert hätten, wären oben nicht dauernd die Reißverschlüsse gekracht.  Jeans-Jacken,  Cowboy-Stiefel, Parker. Andere rannten mit Sandalen herum, bunten Tüchern wie Inder und lasen Texte, in denen Gurus Erleuchtung versprachen, was dann auch so manchem geschah, allerdings anders als erhofft.

Die Politik war "neu", was sie auch immer ist (samt ihren Rückbesinnungen). Die Öl-Krise fegte plötzlich die Autobahnen leer. An einem Sonntag durfte man auf ihnen sogar mit dem Fahrrad fahren, aber genau weiß ich es nicht mehr. Vielleicht war die "Sauerlandlinie" auch noch nicht fertig. Jedenfalls schien der Fortschrittsglaube unserer Eltern-Generation zerbrochen, dass es immer bergauf gehe mit Wirtschaft, Autos und Müllproduktion.

Die "Öl-Krise" wurde zur Energie-Krise, denn die anderen Energien erwiesen sich als zu knapp, um den gestiegenen Energieverbrauch decken zu können. Plötzlich erkannte man die natürliche, vor allem aber politische Begrenztheit der Ressourcen.  Deshalb versuchte diese Elterngeneration die überraschend erfahrenen Grenzen ihres wirtschaftspolitischen Modells atomar zu überwinden. Wie verrückt investierten die Regierungen in Atomprogramme und überall im Land wurden Atomkraftwerke gebaut. Es kam zu Störfällen, die in "Restrisiko"-Analysen eigentlich "nur alle zehntausend Jahre" hätten passieren dürfen. 
Immer wieder gerieten Nachrichten von Störfällen verzögert und verzerrt in die Öffentlichkeit, so dass allmählich das Vertrauen in die Verantwortlichen schwand. Und es kam zu ersten Massendemonstrationen, die es in solcher Größe gegen Regierungen seit der Weimarer Republik nicht mehr  gegeben hatte.

Aber ich muss jetzt schließen. Wäsche aufhängen. - So tief kann man sinken :-)

Liebe Grüße von Sven
 

ps: Ich wünsche Dir ein schönes neues Jahr und "Überlebensfähigkeit", die sich am besten sichert, indem Du Deine "Feinde" nicht zu verdrängen versuchst, sondern mit ihnen Freundschaft schließt. Das klappt nicht immer, aber es klappt oft genug ganz einfach, denn die Gegensätze zwischen Menschen haben auch Anziehungskräfte. Man muss es nur versuchen. Alles Gute!

  

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